Muss das sein: Ein dunkles Buch über die dunklen Seiten Goethes (1999)

Gern beschäftigt sich der Mensch mit anderen Menschen. Er beobachtet sie, er spricht über sie, er tauscht sich mit Menschen über andere Menschen aus und hofft, bei diesem Tauschgeschäft auch wieder etwas Neues zu erhalten, eine Geschichte, die vielleicht sogar mit dem Kribbel des Verbotenen, Fremden, Neuartigen verbunden ist. Besonders gern beschäftigt sich der Mensch mit anderer Menschen Sexualität, da der Reiz, der in der Körperlichkeit begründet liegt, hier garantiert ist. Handelt es sich um etwas Delikates, ist der Reiz größer. Auch seltene, vielleicht als ungehörig angesehene Bereiche werden hier gern gehört und feilgeboten. Das Höchste der Gefühle, das Beobachten der Mitmenschen betreffend, ist dann erreicht, wenn es sich bei der Entdeckung neuer unbekannter Seiten um bekannte Personen handelt, Personen, von denen man meint, alles und jede Kleinigkeit genau zu kennen.
Vielleicht mag dies auch der Grund sein, der Sie, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, in diesen Vortrag brachte. Sie werden enttäuscht werden. Dieser Vortrag handelt nicht von und auch nicht mit Goethes Homosexualität, noch nicht einmal seine Sexualität wird das Thema sein. Vielmehr wird die Rede sein von Texten, von Literatur und von dem, was man damit machen kann.
Das ideale Medium zum globalen Austausch indiskreter Details ist - was wir spätestens seit der ‘Romanze’ zwischen William (Bill) und Monica wissen - das Internet. Der wahre Grund zur Entwicklung neuer Medien liegt - so hat es zumindest den Anschein - in der tiefen menschlichen Leidenschaft des voyeuristischen Betrachtens der Fehltritte anderer Menschen und ihrer schnellstmöglichen Verbreitung. Wie auch immer.
Wenn man im Internet nach Seiten über Goethe sucht und zu diesem Zweck die Dienste einer der vielen Suchmaschinen in Anspruch nimmt, gelangt man zu einer recht umfangreichen Auflistung, auf der neben einer Vielzahl von Goethe-Instituten und dem Angebot des Dachdeckermeisters Heinrich Goethe auch eine Seite der „South Bank University London“ mit dem Titel „Johann Wolfgang von Goethe“ zu finden ist.
Auf dieser Seite wird der Versuch unternommen, Johann Wolfgang von Goethe zu „outen“. Ich weiß nicht, ob Sie mit der Terminologie vertraut sind, denn es gibt einen entscheidenden feinen Unterschied zwischen dem sogenannten „Coming out“ einer Person und dem „Outen“, was durch eine andere Person geschieht. Der Begriff „Coming out“ wird in der Regel in dem Zusammenhang verwendet, daß eine Person sich zu ihrer Homosexualität bekennt, was bei Personen des öffentlichen Lebens entsprechend öffentlich geschieht oder zumindest so, daß es die Öffentlichkeit schnell erfährt. Wenn eine andere Person nachhilft, also öffentlich verkündet: „X ist homosexuell!“, dann spricht man vom „outen“. Soviel zur neudeutschen Terminologie.
Die von mir entdeckte Seite im Internet, präsentiert von einer Gruppe namens: „The Knitting Circle“, was man übersetzen könnte mit „Häkel-/Strickgruppe“, im Sinne von „Kränzchen“, gibt unter der Überschrift „Johann Wolfgang von Goethe“ zunächst eine Kurzbiographie des Dichters, um im zweiten Absatz auf Goethes Bisexualität einzugehen. Er habe selbst oft auf diese seine Neigung und Sympathie hingewiesen. Als Beweis dient ein Epigramm Goethes mit folgendem Wortlaut:
Knaben liebt ich wohl auch, doch
lieber sind mir die Mädchen,
Hab ich als Mädchen sie satt, dient
sie als Knabe mir noch.
Im weiteren Verlauf heißt es dann, daß Goethe bereits 1908 geoutet wurde, und zwar in der „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“ in einem Artikel mit dem Titel: „Notizen aus Goethes Werken über Homosexualität“.
Weiter heißt es dann, daß die gesamte Welt seit langem davon weiß. Nur ein Land ignoriere diese Tatsache, das Land des Dichterfürsten, Deutschland. Der Autor des Artikels fährt fort: „Für die heterosexuelle Welt, in der Heilige einfach nicht schwul sein dürfen, waren die letzten Enthüllungen wie ein Schock, oder, wie ein guter schneller Tritt in den Hintern! Ist es wirklich möglich, daß es Deutschland unbekannt blieb, was der Rest der Welt wußte? Es erinnert einen ein bißchen an das selektive Gedächtnis, das Deutschland hat in bezug auf die Verfolgung von Homosexuellen, Zigeunern, Juden und anderen Unerwünschten. Homosexuelle in englischsprachigen Ländern haben schnell bemerkt, daß Deutschland auch lange nach dem Zweiten Weltkrieg Homosexuelle verfolgt.“ Als maßgebliche Quelle für diese Tatsache nennt der Artikel neben den vielen „deutlichen“ Hinweisen in Goethes Texten ein jüngst (1997) in Deutschland erschienes Buch von Karl Hugo Pruys mit dem Titel: „Die Liebkosungen des Tigers. Eine erotische Goethe Biographie.“ Dieses Buch, so wird vermerkt, wurde mit großen Erwartungen begrüßt, doch was geschieht in Deutschland? Das Land ist schockiert, „unfähig weiter zu lesen“. Und die Stiftung Weimarer Klassik, die dem Autor Pruys vor der Veröffentlichung Werbung und Verkauf seines Buches versprach, zog ihr Angebot in dem Augenblick zurück, als ihr deutlich wurde, daß Pruys die Idee vertrat, „Goethe war praktizierender Homosexueller“. Wir haben nun also folgendes Personal: eine wissende Minderheit, einen enthüllenden Märtyrer und eine ignorante (Goethe-)Clique, die stellvertretend für ein ganzes, ebenso ignorantes Land steht.
Als erstes stellt sich vielleicht die Frage, wer ist jener schonungslose Aufklärer namens Karl Hugo Pruys? Sein letztes Buch vor dem Goethe-Werk war eine Biographie des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, ansonsten schreibt er, so der Klappentext, „kommunikationswissenschaftliche und sprachkritische Bücher“. Daß dieser Mann kein Literaturwissenschaftler ist, wird schnell deutlich. So finden sich keine Literaturangaben, noch nicht einmal zu der verwendeten Primärliteratur. Nicht selten kann man dies bei sogenannten populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen beobachten, die auf den gesamten wissenschaftlichen Apparat wie Quellenangaben, Anmerkungen, Fußnoten, Literaturverzeichnis usw. verzichten. Anstelle von konkreten Verweisen wird dann im Text formuliert: „Wie man entdeckt/festgestellt/untersucht hat....“. Bei einem Buch, das sich zur Bestätigung seiner Thesen und Behauptungen auf Primärtexte stützt, wirkt ein solches „unbefangenes“ Umgehen mit Texten reichlich deplaziert, wenn nicht sogar gefährlich.
Seine Professionalität und Kenntnis im Umgang und der Auseinandersetzung mit Goethe unterstreicht Pruys mit der im Internet zitierten Aussage, er habe ungefähr 2500 Briefe aus der Korrespondenz zwischen Goethe und seinen Zeitgenossen gelesen und diesen Mann seit 10 Jahren studiert. Diese Aussage muß reichen um uns davon zu überzeugen, daß wir es mit einem wahren Kenner und Experten von Goethe und seinem Werk zu tun haben.
Die Lektüre des Werkes von Pruys überzeugt jeden Leser vollständig von seinem Wissen und seinem subtilen Umgang mit Details und Fakten.
Ich möchte nun einige der besonders schönen Stellen aus diesem Buch nennen, damit auch Sie sich ein Bild machen können. Pruys versucht auf zwei Wegen, Goethes wahrer Sehnsucht auf die Schliche zu kommen, indem er sich Goethes Biographie anschaut und in seinem Werk nach Spuren von homoerotischen Beweisen/Hinweisen sucht.
Goethe hat sich bevorzugt in Frauen verliebt, die für ihn unerreichbar waren, weil sie verheiratet oder zu jung oder nicht standesgemäß waren. Das ist für Pruys ein entscheidender biographischer Beweis für die Homosexualität: „Goethe entwickelte (...) ein merkwürdiges System der Tabuisierung des Zugangs zu Frauen, indem er sich vornehmlich jenen zu nähern suchte, die ihm als Sexualobjekt von vornherein unnahbar erscheinen mußten: der verheirateten oder viel jüngeren Frau, einem weiblichen Wesen weit unter seinem Stand, nicht zu vergessen: der eigenen Schwester!“ (Pruys 97:14f.). Ein anderer Beweis sind die Briefe, die Goethe an befreundete Männer schrieb, so z.B. an Ernst Wolfgang Behrisch: „Du bist weg, und das Papier ist nur eine kalte Zuflucht, gegen deine Arme. O Gott, Gott...“ (ebda. 25). Zu einer anderen Stelle des Briefes: „O daß du hier wärest, daß du mich trösten, daß du mich lieben könntest“ schreibt Pruys: „Das liest sich wie ein Stück aus einem Roman der Epoche der Empfindsamkeit, doch der Schlußsatz wiederum wirkt aufrichtig und mutet noch heute authentisch an“ (ebda.). Daß es zu jener Zeit zu den Gepflogenheiten gehörte, ähnlich pathetisch und empfindsam zu sprechen bzw. schreiben, auch wenn es sich nicht um Dichtung handelt, scheint dem Autor entgangen zu sein. Auch von einer empfindsamen (Lebens-)Kultur, die alle Bereiche des Alltags durchwirkte und die auch und wahrscheinlich gerade von einem jungen Dichter des Sturm und Drang gelebt wurde, hat der Autor offenbar nicht gehört. Einige weitere Belege führt der Autor an, die alle in die nämlich Richtung weisen, die ich Ihnen erspare.
Interessanter, weil zum Teil absurder, erscheint mir da die Begründung von Goethes Homosexualität aus seinen poetischen Texten heraus.
Grundsätzlich habe ich gewaltige Einwände gegen den Versuch, poetische Texte zur Aussage über ihren Verfasser zu zwingen. Hier sollte man den Texten ihr Recht auf Verweigerung jeder Aussage zugestehen. Die moderne Literaturwissenschaft - und damit meine ich die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre - hat sich nicht mehr zum Ziel gemacht, die geheime und geschickt versteckte Botschaft eines Autors in seinen Texten ausfindig zu machen. Jene leidenschaftlich von Deutschlehrern über Generationen vorgetragene Frage: „Was will uns der Autor damit sagen?“ hat ausgedient und ihren wohlverdienten Alterssitz in den Köpfen pensionierter Studienräte gefunden.
Die theoretische Auseinandersetzung mit Literatur und ihrem angemessenen Umgang hat Veränderungen mit sich gebracht, die ein Vorgehen wie das beschriebene geradezu absurd erscheinen lassen. Bereits die Strukturalisten der 60er und 70er Jahre verweigerten sich der kommentierenden Textauslegung hermeneutischer Konzeptionen, die laut Foucault, einem bedeutenden französischen Philosophen und Soziologen, zurückgeht auf das Verfahren der Bibelexegese, das ja nichts anderes besagt, als daß am Anfang eine Bedeutung steht, die durch den Text immer wieder und aufs neue zur Deutung herausfordert, jedoch niemals erfolgreich abgeschlossen sein kann. Verlagerte die strukturalistische Vorgehensweise in der sogenannten Diskursanalyse ihre Auseinandersetzung mit Texten auf die intertextuelle Ebene, so wandten sich die Vertreter der Rezeptionsästhetik einem bisher unbekannten Part im literarischen Sprachspiel zu, dem Leser. Er ist es, der ein Kunstwerk erst zu einem solchen macht. Während ein Text gelesen wird, verwandelt er sich aus einer Menge von toten Schriftzeichen in Bedeutung und damit in Kunst. Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes führt zu der Erkenntnis, daß die vorher angenommene Triade Autor - Text - Leser, die ja modifiziert wurde in Autor - Erzähler - Text - Leser auch auf der Leserseite eine Erweiterung erfahren muß, so daß am Ende die logische Konsequenz Autor - Erzähler - Text - immanenter/fiktionaler Leser - realer Leser steht. Die Existenz eines immanenten Lesers - so die Vertreter dieses Ansatzes - ist an vielfältigen Zeichen im Text erkennbar, so in der - gelegentlich vorkommenden - direkten Anrede des Leser, die ja nicht das Individuum meint, welches das Buch gekauft hat. Diese fortschreitende ‘Fiktionalisierung’ der unterschiedlichen, in der Produktion und Rezeption von Texten interagierenden Parteien, impliziert natürlich einen veränderten Umgang mit Texten als solchen. Wie bereits erwähnt, ist die Frage, die der Interpretation vorausgeht und diese in Gang setzt, nicht mehr die nach dem Realitätsbezug von Texten, also in der genannten Art: Was will der (reale) Autor mit seinem Text dem (realen) Leser über die (reale) Welt sagen? An ihrer Stelle steht eine Vielzahl von Fragen: Aus dem ‘Was bedeutet dieser Text/Satz?’ wurde beispielsweise ein ‘Was tut dieser Text/Satz (mit dem Leser)?’.
Ein wichtiges Ergebnis dieser Art von Auseinandersetzung mit der Literatur ist, daß Dichtung im Grunde keine Textsorte ist, sondern eine ‘Lesestrategie’, d.h. es handelt sich hier um keine Qualität des Textes, sondern um ein Resultat des Lesevhaltens. Sie können den Unterschied leicht erkennen, wenn sie sich folgendes vor Augen halten: Das geschriebene Wort ‘Ich’ in einem Brief, den Sie erhalten, verweist eindeutig auf den realen Autor dieses Textes. Wenn Sie jedoch einen Roman oder ein Gedicht lesen, repräsentiert dieses ‘Ich’ nicht und niemals den Autor. Der Grund hierfür liegt einzig darin, daß es sich im zweiten Fall um Dichtung/Literatur handelt, weder grammatisch noch logisch ist dies aus dem Text selbst ersichtlich.
Eine andere Position bezüglich der Leserfunktion besagt folgendes: Wir lesen, um unsere Identität zu entwickeln und füllen unsere eigenen Wünsche und Ängste in das literarische Werk. Was wir sehen, ist das, was wir uns wünschen, was wir nicht sehen, das, was wir verdrängen.
Behalten Sie das Gesagte im Kopf und lassen Sie mich nun zurückkehren zu unserem „Goethe-Clubber“ (was soviel bedeutet wie „Goethe-Prügler“), wie Karl Hugo Pruys nicht ohne Verehrung im Internet genannt wird. Auch wenn man nicht vertraut ist mit den Entwicklungen der literarischen Auseinandersetzung der vergangenen Jahrzehnte, sollte man hin und wieder vorsichtig sein bei der Art und Weise der Textexegese. Der interpretatorische Klimax des Buches von Pruys ist wahrscheinlich erreicht in dem „Willkommen und Abschied“ titulierten Kapitel. Ich möchte eine kurze Passage daraus zitieren: „Als Jurist weiß Goethe um die Strafbarkeit homosexueller Betätigung, natürlich, und so unterläßt er alles, was in seinem Verhalten darauf hinweisen könnte. (...) Das Strafrecht seinerzeit spricht in diesem Zusammenhang (...) von ‘Sodomiterei’, gemeint sind damit sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen. Bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus war Homosexualität mit der Todesstrafe bedroht, in Ausnahmefällen wurden Jugendliche verschont. Nach der Säkularisierung des Strafrechts und einer weiteren Milderung einschlägiger Paragraphen wird im preußischen Landrecht von 1794 angeordnet: ‘Sodomiterei und andere dergleichen unnatürliche Sünden, welche wegen ihrer Abscheulichkeit nicht genannt werden können, erfordern eine gänzliche Vertilgung des Andenkens.’ Es folgt eine Bestimmung, deren Kenntnis wir bei Goethe voraussetzen dürfen und die ihn zu einem Kunstgriff verleitete, der sehr aufschlußreich sein kann: ‘Es soll daher ein solcher Verbrecher, nachdem er eine ein- oder mehrjährige Zuchthausstrafe mit Willkommen und Abschied (sic!) ausgestanden hat, aus dem Orte seines Aufenthaltes, wo sein Laster bekannt geworden ist, auf immer verbannt werden.’ Das Begriffspaar steht strafrechtlich für das Auspeitschen des Delinquenten beim Eintreffen und bei der Entlassung aus dem Zuchthaus. Goethe hat sein Briefgedicht an Friederike, beginnend mit dem Vers ‘Es schlug mein Herz...’, erst später bei der Veröffentlichung der ersten Gesamtausgaben seiner Werke mit eben diesen Worten ‘Willkommen und Abschied’ betitelt. Ein Zufall? Sicher nicht. Goethe wußte, was er tat, und er wollte uns damit vermutlich ein Zeichen geben.“ (Pruys 97:44). Pruys wollte uns mit diesem Kapitel wohl auch ein Zeichen geben, ob er (Pruys) dabei wußte, was er tat, ist fraglich. Über diesen offensichtlichen Blödsinn hinaus kann ich diesem Abschnitt nichts entnehmen, was in irgendeiner Weise von Bedeutung wäre. Pruys liefert natürlich keine Quellenhinweise zu den von ihm zitierten Textstellen. Dadurch hätte sein Text einen Hauch von Wissenschaftlichkeit oder doch zumindest von Seriosität erhalten, aber dies wurde nicht für notwendig gehalten. „Ein Zufall? Sicher nicht.“ (zitiert nach Pruys). Worum es dem Autor in seinem Buch eigentlich geht, wird nicht klar. Er selbst schreibt in einer Art Nachwort davon, daß die - wie er sie nennt - dunkle Seite Goethes bisher kaum Beachtung fand, obwohl sie ihm bei der Beschäftigung mit Goethe immer wieder auffiel. Außerdem sei es doch wichtig, welchen erotischen Neigungen und Phantasien ein Dichter nachgeht, vor allem da Goethe nicht als irgendein Dichter, sondern „unbestreitbar als der Schöpfer abendländischer Liebespoesie gesehen werden darf, jedenfalls in der Neuzeit“. Damit behauptet Pruys also, ein aufklärerischer Impetus stecke hinter seiner Arbeit. Wenn dem so ist, warum hat er dann, in seinem Bemühen um eine notwendige Ergänzung der Goethe-Forschung, auf jedes Anzeichen von seriösem Arbeiten verzichtet und sein Buch als Anhäufung von Spekulationen und nicht nachvollziehbaren Beweisen zusammengeschrieben? In welche Richtung diese Beweise laufen sollen, bleibt auch nicht ganz klar: Pruys spricht niemals eindeutig davon, daß Goethe homosexuell war, mal nennt er homoerotische Neigungen, ein anderes Mal geht es um seine latente Homosexualität, wieder ein anderes Mal ist Goethe bisexuell. Im Nachwort wiederum heißt es, daß Goethe Frauen gegenüber bindungsunfähig war, dennoch widmet Pruys einen Teil seines Buches den Beziehungen Goethes zu den Frauen.
Sei es, wie es sei, die sexuellen Präferenzen Goethes sollen uns nicht weiter interessieren. Interessieren sollen und müssen uns aber Texte wie der von Pruys, die all das ignorieren, was eine seriöse Literaturwissenschaft in ihrem Bemühen um wissenschaftliche Anerkennung in der Vergangenheit erreicht hat.
Eine schöne Stelle hat dieses Buch allerdings, ein zitiertes Gedicht aus den Venetianischen Epigrammen von Goethe. Dabei ist dieses Gedicht bei Pruys - natürlich wieder ohne Quellenangabe - ein wenig anders zitiert, wo ich an anderer Stelle ein F mit drei Pünktchen fand, steht bei Pruys ein ganzes Wort. Ich zitiere: „Was ich am meisten besorge: Bettina wird immer geschickter, / Immer beweglicher wird jegliches Gliedchen an ihr; / Endlich bringt sie das Züngelchen noch ins zierliche Fötzgen, / Spielt mit dem artigen Selbst, achtet die Männer nicht viel.“ Auch wenn ein Wermutstropfen den Genuß ein wenig bitter macht, da die genannte Leerstelle wahrscheinlich von Pruys und niemand anderem ausgefüllt wurde, so gibt dieses Zitat doch ein wenig Trost nach der unendlichen Weite an Elend und Jammer, die Karl Hugo Pruys in seinem Buch dargeboten hat. Und ob Goethe nun schwul war oder nicht, interessiert nach diesem Epigramm doch wirklich niemanden mehr, oder?

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