Fräulein Julie aus Temeswar (1998)

Am Montag, dem 27.04.98 hatte das Hermannstädter Publikum die Möglichkeit, ein anderes „Fräulein Julie“ kennenzulernen. Anläßlich des nationalen Studententheaterfestivals, das vom 24. bis zum 29. April im hiesigen Theater „Radu Stanca“ stattfindet, präsentierte das Deutsche Staatstheater Temeswar seine Deutung des Stückes von August Strindberg. So gab es die seltene Gelegenheit, zwei Inszenierungen desselben Stückes sehen und vergleichen zu können (die Hermannstädter Inszenierung vom Februar diesen Jahres ist noch in guter Erinnerung). Das Temeswarer Ensemble und seine darstellerische Leistung brauchte sich mit seiner Interpretation und Umsetzung vor dem gut gefüllten Zuschauerraum gewiß nicht zu verstecken, denn was die jungen Schauspieler boten, war der Ansicht wert. Das Stück unter der Regie von Stefan-Andreas Darida folgte dem Text August Strindbergs ohne wesentliche Kürzungen. Die Inszenierung verzichtete auf außergewöhnliche Ideen und Präsentationsweisen - hier im Unterschied zur Hermannstädter Inszenierung - und konzentrierte sich ganz auf den Text und seine schauspielerische Interpretation. So genügte sich das Bühnenbild in der Ausstattung von Traian Zamfirescu in der Darstellung einer rustikalen Küche mit fast überproportioniertem Mobiliar und einer Kochstelle im Hintergrund nebst einem Treppenaufgang. Für die ausdrucksvolle Interpretation des Textes war ohne Zweifel das schauspielerische Können und der Elan der drei Darsteller von besonderer Bedeutung: Kristin (Ildiko Frank), die untertänige Köchin, die ihr Schicksal mit Anstand trägt in dem Bewußtsein, daß sie in der Hierarchie weit unten rangiert und mit dem vorlieb nehmen muß, was übrigbleibt und die nur am Rande erwähnt, daß sie den Beischlaf ihres Verlobten mit ihrer Herrin auf dem Küchentisch beobachtet hat; Jean, der arrogante Kammerdiener, der sich seines guten Aussehens und der beiden um ihn buhlenden Frauen bewußt ist und dabei hin- und hergerissen ist zwischen seiner offiziellen Position als untertäniger, geradezu devoter Domestik einerseits und seiner privaten Rolle als betrügender stolzer Geck andererseits, der durch seine (sexuellen) Eroberungen immer überheblicher und unerträglicher wird und der im Grunde mit seiner Verführung von Fräulein Julie nur ein Ziel verfolgt, nämlich einen Sponsor für sein geplantes Hotel in der Schweiz zu finden; und schließlich Fräulein Julie, die aufgrund ihrer Familiengeschichte die Männer haßt und die doch ihr Herz an den falschen verliert, an Jean. Nachdem sie sich ihm hingibt, zeigt er sein wahres Gesicht und wandelt sich vom Charmeur zum Opportunisten. Ihr bleibt, wie so oft für liebende Frauen in der Theaterwelt, nur ein Ausweg. Da ihr der Mut fehlt und Jean sich außerstande sieht, das Spiel vom Rollentausch von Befehlsgeber und -empfänger fortzusetzen, führt Kristin die Hand ihrer Herrin im Akt der Selbstentleibung. Mit dramatischer Musik und einem „Vaterunser“ auf den Lippen beendet Fräulein Julie mit einem Rasiermesser ihr nun schandhaft gewordenes Leben und damit einen Theaterabend, der Theater in Reinform zeigte und dem nichts fehlte: Nicht das (Theater-)Blut und nicht das nackte Fleisch der Hauptdarstellerin. Das Publikum verlohnte es den abgekämpften Dienern Thalias mit anhaltendem Applaus.
Was an dem Abend auszusetzen wäre ist zunächst einmal im Stück selbst begründet, da es in einem uns heute fremden Milieu angesiedelt ist, was die Motivation der Handelnden zum Teil schwer nachvollziehbar macht. Warum z.B. muß sich die Protagonistin töten, nur weil sie (aus freien Stücken) sexuellen Kontakt hatte mit einem ihrer Diener? Diese und andere Fragen stellen sich aber oft bei der Konfrontation mit Stücken älteren Datums. So bleibt dem Betrachter nur die Möglichkeit, das Ganze als historisches Geschehen zu deuten, ohne nennenswerte Bezüge zur Gegenwart.
Im Vergleich mit der Hermannstädter Inszenierung fällt sofort die unterschiedliche Atmosphäre der beiden Stücke auf. War die hiesige Darstellung geprägt von einer finsteren, fast morbiden Stimmung, die untermauert war durch das stark dominierende Bühnenbild, mit zum Teil erschreckenden Szenen und einem über alle Maßen unsympathischen und gemeinen Jean (nichts für ungut, Franz!), präsentiert sich die Temeswarer Deutung in einem ganz anderen Licht. Die lustig beschwingte Tanzmusik zu Beginn des Stückes mit einem leichtfüßigen folkloristischen Tanz der drei Darsteller, die helle rustikale Küche und dazu ein wirklich netter und freundlicher Jean, dem man sein Verhalten nur wegen seiner Worte glaubt.
Dem schwermütigen düsteren Spiel der Hermannstädter Schauspieler stellte sich mit dem Temeswarer Ensemble eine leichte und beschwingte Inszenierung gegenüber. Welche der beiden Interpretationen die bessere war, vermag man nicht zu sagen, ist aber auch nicht von Bedeutung. Wichtig war vielmehr zu sehen, wie die Verschiedenheit der Deutungen im Vergleich die Qualität der beiden Inszenierung verdeutlichte.

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