Never trust the hype (1999)
Es gibt in meiner Generation einen Spruch, so etwas wie eine Lebensweisheit für den Umgang mit Kultur im weitesten Sinn. Er lautet: „NEVER TRUST THE HYPE“. Seine Bedeutung kann man so erklären, dass jedes Kunstprodukt, sei es ein neuer Film, ein Star, eine Musikgruppe, ein Lied, sich verdächtig macht, wenn es immer wieder angepriesen und genannt wird. Es gibt beispielsweise bei den Musiksendern im Fernsehen das Verfahren der „Heavy Rotation“, bei dem ausgewählte Lieder permanent gespielt werden, was zwangsläufig zu ihrem Erfolg (nachlesbar an den Verkaufszahlen) führt und damit ihre erhöhte Präsenz im Nachhinein legitimiert. In der Filmbranche ist es nicht anders. Filme von großen Verleihfirmen werden zum Teil schon länger als ein halbes Jahr im Voraus angekündigt und die Werbung flächendeckend in allen Medien eingesetzt.
Erfolg ist also machbar und planbar. Der genannte Spruch steht für eine Gegenstrategie, die sich solchen Verfahren widersetzt. So mancher Anhänger dieser Aussage kauft und hört also grundsätzlich keine Musik, die in populären Radio- und Fernsehsendern gespielt wird und verfährt entsprechend mit anderen Medienprodukten. Und es stellt sich in der Tat heraus, dass neue Erfahrungen und interessante Entdeckungen - wenn es solche in der Welt der Medien überhaupt noch gibt - nur weit abseits von Verkaufszahlen und Bestenlisten zu machen sind. Denn das, was sich gut verkauft, ist per definitionem „Mainstream“, mit anderen Worten massenkompatibel, und damit für Innovationen und Entwicklungen nicht zugänglich.
In diesem Jahr befinden wir uns im Goethe-Jahr. Das bedeutet: Wo man geht und steht wird man von Goethe-Partikeln umweht - ob man will oder nicht. Es gibt Goethe-Symposien, Goethe-Lesungen, Goethe-Seminare, Goethe-Abende, Goethe-Festivals, ganz zu schweigen von der Flut an Neuveröffentlichungen zu Goethe und allem, was dazugehört. Mit anderen Worten: Wir erleben gerade den ultimativen Goethe-Hype. Dabei kann und will ich Herrn Goethe mit seinen 250 Jahren keinen Vorwurf machen, er ist frei von Schuld. Darum geht es mir auch nicht. Was ich möchte, ist meinem Unbehagen Ausdruck zu verleihen. Ein Unbehagen, das immer dann auftritt, wenn etwas über alle Maßen angepriesen wird und sich als berühmt und überaus erfolgreich präsentiert. Natürlich hat es mich gefreut, als eine japanische Studentin im Fernsehen den Werther auf japanisch vorgetragen hat und genauso freut es mich jetzt, dass ich endlich das Geburtsjahr Goethes nicht mehr nachschlagen muss, sondern einfach die 250 Jahre zurückrechnen kann. Alles angenehme Dinge. Ich muss auch gestehen, dass ich in diesem Jahr wahrscheinlich mehr von Goethe gelesen habe als in meinem ganzen Leben vorher. Die Folgen der „Heavy Rotation“ gehen auch an mir nicht spurlos vorbei. Schön und gut, doch das Unbehagen bleibt, ob all die Energie, die für die Zelebrierung des Goethe-Jahres aufgebracht wurde und wird, nicht besser anderweitig eingesetzt wäre?
Wenn ich mich an mein Studium erinnere, dann waren es nicht die Goethe-Seminare, die interessant waren und die ich länger besucht habe. Schließlich konnte ich all das bequem in jeder Bibliothek nachlesen, wo sich die Sekundärliteratur zu Goethe mittlerweile in Kilometern abmessen lässt. Nein, dankbar war ich jenen Dozenten, die mir andere Literatur nahe brachten, Literatur, die ich nicht schon aus dem Gymnasium kannte und Autoren, von denen ich zum Teil noch nie gehört hatte. Für die „Nachtwachen von Bonaventura“ (von August Klingemann) und die „Biographien der Wahnsinnigen“ (von Heinrich Spieß) hätte und habe ich jedes Goethe-Seminar sausenlassen und für die Vorlesungen über Hans Erich Nossack und Hans Henny Jahnn überließ ich Werther seinem Schicksal.
Diese Entscheidung beinhaltete niemals ein qualitatives Urteil, ich war nicht der Ansicht, dass die einen besser wären als die anderen. Für mich aber waren die, über welche schon Generationen von Germanisten stapel- und kistenweise Bücher mit Überlegungen und Analysen angefertigt und veröffentlicht hatten, schlicht und einfach die weniger Interessanten. Zum einen sicherlich aus dem oben beschriebenen Grunde, weil so viele Menschen diese Autoren kannten und schätzten, zum anderen aber auch, weil es mein Wunsch war, das Studium für die Entdeckung der anderen, der weniger bekannten Literatur zu nutzen und mich eher mit den abseits stehenden Autoren zu beschäftigen. Und auch heute noch ist meine feste Überzeugung, dass es eine wichtige Aufgabe des Literaturwissenschaftlers ist, die unbekannten Literaten mit ihren Werken der Vergessenheit zu entreißen und sie dem Leser wieder zugänglich zu machen, eine wichtigere Aufgabe vielleicht, als die 250. Arbeit über den Werther oder die Iphigenie zu verfassen.
Denn auch im Diskurs der hohen Literatur lauern die Gefahren des „Hypes“. Hochschulprofessoren schreiben Arbeiten über die Autoren, von denen sie in ihrem Studium gelernt haben, dass dieses die bedeutenden Autoren sind. Mit ihren Arbeiten und damit durch die Erweiterung des Bestandes an Sekundärliteratur betonen und unterstreichen sie diese Bedeutung. Gleichzeitig lehren sie in ihren Seminaren, dass diese Autoren von größter Bedeutung für die Nationalliteratur sind. Der Kreis schließt sich und viele Autoren, die in ihrem Schaffen oft nicht schlechter, manchmal besser sind, bleiben außen vor. Ein gutes Beispiel hierfür ist sicherlich Hans Henny Jahnn (1894-1959). Für sein erstes Werk, das 1916/17 geschriebene Drama „Pastor Ephraim Magnus“, erhielt er 1920 den renommierten Kleist-Preis. Sein erster großer Roman, „Perrudja“ erschien 1929 und wurde u.a. von Klaus Mann begeistert aufgenommen, der sagte, es stünde nicht hinter „Berlin Alexanderplatz“ zurück und der Jahnn mit Döblin und Joyce in einem Atemzug nannte. Jahnns Hauptwerk, der 1935-47 entstandene Roman in drei Teilen „Fluß ohne Ufer“, blieb bei seiner Veröffentlichung 1949-1952 ohne jede Resonanz. Erst mit dem Schritt von Botho Strauß, der das Preisgeld des ihm 1989 verliehenen Büchner-Preises für einen Lese-Wettbewerb über diesen Roman stiftete, begann sich eine Wende anzubahnen in der Rezeption Hans Henny Jahnns. Sein Roman wird mittlerweile bezeichnet als einer der großen Entwicklungsromane der deutschen Literatur, angemessen rezipiert wird er auch heute nicht, noch nicht einmal in der Germanistik. Das ist äußerst bedauerlich und wir sollten alles daransetzen, um die Vielzahl der missachteten, dabei nicht weniger guten Autoren der Vergangenheit aus dem Dunkel ans Licht zu holen, denn das ist doch eine der Aufgaben des Kulturwissenschaftlers, die Beschreibung und Bewahrung der Zeugnisse und Dokumente unserer Kultur. Wären die Archäologen nur in Rom geblieben, dann wäre Troja heute noch nicht entdeckt. Aus diesem Grund sei mein Appell an alle, die sich professionell mit Literatur und ihrer Vermittlung in Schule und Universität beschäftigen und beschäftigen werden: Geben Sie dem guten Herrn Goethe und den von Goethe längst übersättigten Studenten ihren wohlverdienten Frieden und richten Sie ihr Augenmerk auf die - im zweifachen Sinne - unüberschaubare Menge der Autoren, die uns heute wegen der Ignoranz unserer Lehrer und Professoren gar nicht oder nur vage bekannt sind und bereiten Sie sich schon vor auf die kommenden Gedenk- und Jubiläumsjahre, denn im nächsten Jahr ist der 50. Todestag von Albrecht Schaeffer, im darauf folgenden ebenfalls der 50. Todestag von Bernhard Kellermann, im Jahr 2002 der 125. Todestag von Friedrich Wilhelm Hackländer, im Jahr 2003 der 75. Todestag von Hermann Sudermann, der 125. Todestag von Karl Friedrich Gutzkow und der 200. Todestag von Wilhelm Heinse, im Jahr 2004 ist der 125. Todestag von Ludwig Anzengruber. Im Jahr 2005 begehen wir den 250. Geburtstag von Christian Heinrich Spieß und den 100. Todestag von Marcel Schwob, im darauf folgenden Jahr, 2006, den 50. Todestag von Max Beerbohm, im Jahr 2007 feiern wir den 150. Geburtstag von Hermann Sudermann und von Hermann Bang, sowie den 50. Todestag von Leo Perutz.
Lassen Sie uns also von nun an verstärkt an all die vergessenen Dichter denken, die aus manchmal unerfindlichen Gründen in Vergessenheit geraten sind und lassen Sie uns in unserer Arbeit mehr als bisher unser Augenmerk auf sie richten und sie damit zurückbringen in das Bewusstsein der Studenten und damit zurück in das Bewusstsein der Welt. Viele dieser Autoren verdienen es bestimmt, von uns „gehypt“ zu werden.
Erfolg ist also machbar und planbar. Der genannte Spruch steht für eine Gegenstrategie, die sich solchen Verfahren widersetzt. So mancher Anhänger dieser Aussage kauft und hört also grundsätzlich keine Musik, die in populären Radio- und Fernsehsendern gespielt wird und verfährt entsprechend mit anderen Medienprodukten. Und es stellt sich in der Tat heraus, dass neue Erfahrungen und interessante Entdeckungen - wenn es solche in der Welt der Medien überhaupt noch gibt - nur weit abseits von Verkaufszahlen und Bestenlisten zu machen sind. Denn das, was sich gut verkauft, ist per definitionem „Mainstream“, mit anderen Worten massenkompatibel, und damit für Innovationen und Entwicklungen nicht zugänglich.
In diesem Jahr befinden wir uns im Goethe-Jahr. Das bedeutet: Wo man geht und steht wird man von Goethe-Partikeln umweht - ob man will oder nicht. Es gibt Goethe-Symposien, Goethe-Lesungen, Goethe-Seminare, Goethe-Abende, Goethe-Festivals, ganz zu schweigen von der Flut an Neuveröffentlichungen zu Goethe und allem, was dazugehört. Mit anderen Worten: Wir erleben gerade den ultimativen Goethe-Hype. Dabei kann und will ich Herrn Goethe mit seinen 250 Jahren keinen Vorwurf machen, er ist frei von Schuld. Darum geht es mir auch nicht. Was ich möchte, ist meinem Unbehagen Ausdruck zu verleihen. Ein Unbehagen, das immer dann auftritt, wenn etwas über alle Maßen angepriesen wird und sich als berühmt und überaus erfolgreich präsentiert. Natürlich hat es mich gefreut, als eine japanische Studentin im Fernsehen den Werther auf japanisch vorgetragen hat und genauso freut es mich jetzt, dass ich endlich das Geburtsjahr Goethes nicht mehr nachschlagen muss, sondern einfach die 250 Jahre zurückrechnen kann. Alles angenehme Dinge. Ich muss auch gestehen, dass ich in diesem Jahr wahrscheinlich mehr von Goethe gelesen habe als in meinem ganzen Leben vorher. Die Folgen der „Heavy Rotation“ gehen auch an mir nicht spurlos vorbei. Schön und gut, doch das Unbehagen bleibt, ob all die Energie, die für die Zelebrierung des Goethe-Jahres aufgebracht wurde und wird, nicht besser anderweitig eingesetzt wäre?
Wenn ich mich an mein Studium erinnere, dann waren es nicht die Goethe-Seminare, die interessant waren und die ich länger besucht habe. Schließlich konnte ich all das bequem in jeder Bibliothek nachlesen, wo sich die Sekundärliteratur zu Goethe mittlerweile in Kilometern abmessen lässt. Nein, dankbar war ich jenen Dozenten, die mir andere Literatur nahe brachten, Literatur, die ich nicht schon aus dem Gymnasium kannte und Autoren, von denen ich zum Teil noch nie gehört hatte. Für die „Nachtwachen von Bonaventura“ (von August Klingemann) und die „Biographien der Wahnsinnigen“ (von Heinrich Spieß) hätte und habe ich jedes Goethe-Seminar sausenlassen und für die Vorlesungen über Hans Erich Nossack und Hans Henny Jahnn überließ ich Werther seinem Schicksal.
Diese Entscheidung beinhaltete niemals ein qualitatives Urteil, ich war nicht der Ansicht, dass die einen besser wären als die anderen. Für mich aber waren die, über welche schon Generationen von Germanisten stapel- und kistenweise Bücher mit Überlegungen und Analysen angefertigt und veröffentlicht hatten, schlicht und einfach die weniger Interessanten. Zum einen sicherlich aus dem oben beschriebenen Grunde, weil so viele Menschen diese Autoren kannten und schätzten, zum anderen aber auch, weil es mein Wunsch war, das Studium für die Entdeckung der anderen, der weniger bekannten Literatur zu nutzen und mich eher mit den abseits stehenden Autoren zu beschäftigen. Und auch heute noch ist meine feste Überzeugung, dass es eine wichtige Aufgabe des Literaturwissenschaftlers ist, die unbekannten Literaten mit ihren Werken der Vergessenheit zu entreißen und sie dem Leser wieder zugänglich zu machen, eine wichtigere Aufgabe vielleicht, als die 250. Arbeit über den Werther oder die Iphigenie zu verfassen.
Denn auch im Diskurs der hohen Literatur lauern die Gefahren des „Hypes“. Hochschulprofessoren schreiben Arbeiten über die Autoren, von denen sie in ihrem Studium gelernt haben, dass dieses die bedeutenden Autoren sind. Mit ihren Arbeiten und damit durch die Erweiterung des Bestandes an Sekundärliteratur betonen und unterstreichen sie diese Bedeutung. Gleichzeitig lehren sie in ihren Seminaren, dass diese Autoren von größter Bedeutung für die Nationalliteratur sind. Der Kreis schließt sich und viele Autoren, die in ihrem Schaffen oft nicht schlechter, manchmal besser sind, bleiben außen vor. Ein gutes Beispiel hierfür ist sicherlich Hans Henny Jahnn (1894-1959). Für sein erstes Werk, das 1916/17 geschriebene Drama „Pastor Ephraim Magnus“, erhielt er 1920 den renommierten Kleist-Preis. Sein erster großer Roman, „Perrudja“ erschien 1929 und wurde u.a. von Klaus Mann begeistert aufgenommen, der sagte, es stünde nicht hinter „Berlin Alexanderplatz“ zurück und der Jahnn mit Döblin und Joyce in einem Atemzug nannte. Jahnns Hauptwerk, der 1935-47 entstandene Roman in drei Teilen „Fluß ohne Ufer“, blieb bei seiner Veröffentlichung 1949-1952 ohne jede Resonanz. Erst mit dem Schritt von Botho Strauß, der das Preisgeld des ihm 1989 verliehenen Büchner-Preises für einen Lese-Wettbewerb über diesen Roman stiftete, begann sich eine Wende anzubahnen in der Rezeption Hans Henny Jahnns. Sein Roman wird mittlerweile bezeichnet als einer der großen Entwicklungsromane der deutschen Literatur, angemessen rezipiert wird er auch heute nicht, noch nicht einmal in der Germanistik. Das ist äußerst bedauerlich und wir sollten alles daransetzen, um die Vielzahl der missachteten, dabei nicht weniger guten Autoren der Vergangenheit aus dem Dunkel ans Licht zu holen, denn das ist doch eine der Aufgaben des Kulturwissenschaftlers, die Beschreibung und Bewahrung der Zeugnisse und Dokumente unserer Kultur. Wären die Archäologen nur in Rom geblieben, dann wäre Troja heute noch nicht entdeckt. Aus diesem Grund sei mein Appell an alle, die sich professionell mit Literatur und ihrer Vermittlung in Schule und Universität beschäftigen und beschäftigen werden: Geben Sie dem guten Herrn Goethe und den von Goethe längst übersättigten Studenten ihren wohlverdienten Frieden und richten Sie ihr Augenmerk auf die - im zweifachen Sinne - unüberschaubare Menge der Autoren, die uns heute wegen der Ignoranz unserer Lehrer und Professoren gar nicht oder nur vage bekannt sind und bereiten Sie sich schon vor auf die kommenden Gedenk- und Jubiläumsjahre, denn im nächsten Jahr ist der 50. Todestag von Albrecht Schaeffer, im darauf folgenden ebenfalls der 50. Todestag von Bernhard Kellermann, im Jahr 2002 der 125. Todestag von Friedrich Wilhelm Hackländer, im Jahr 2003 der 75. Todestag von Hermann Sudermann, der 125. Todestag von Karl Friedrich Gutzkow und der 200. Todestag von Wilhelm Heinse, im Jahr 2004 ist der 125. Todestag von Ludwig Anzengruber. Im Jahr 2005 begehen wir den 250. Geburtstag von Christian Heinrich Spieß und den 100. Todestag von Marcel Schwob, im darauf folgenden Jahr, 2006, den 50. Todestag von Max Beerbohm, im Jahr 2007 feiern wir den 150. Geburtstag von Hermann Sudermann und von Hermann Bang, sowie den 50. Todestag von Leo Perutz.
Lassen Sie uns also von nun an verstärkt an all die vergessenen Dichter denken, die aus manchmal unerfindlichen Gründen in Vergessenheit geraten sind und lassen Sie uns in unserer Arbeit mehr als bisher unser Augenmerk auf sie richten und sie damit zurückbringen in das Bewusstsein der Studenten und damit zurück in das Bewusstsein der Welt. Viele dieser Autoren verdienen es bestimmt, von uns „gehypt“ zu werden.
Ambulito - 3. Jun, 16:57
Hieß das nicht: