Deutsch als Wissenschaftssprache (2000)
Mit der Reform der deutschen Rechtschreibung wurde die deutsche Sprache für die Öffentlichkeit wieder interessant. An vielen Stellen, an denen man es nie vermutet hätte, brandete eine heftige Diskussion über Sinn und Unsinn der Veränderung von Schreibweisen. Daneben aber gibt es noch zwei Themen, die ebenfalls mit der deutschen Sprache zu tun haben und sich – wie es scheint – zur Emotionalisierung eignen. Es ist dies zum einen der allgemeine Sprachverfall, zum andern der englische bzw. amerikanische Einfluß auf die deutsche Sprache.
Handelt es sich bei diesen Themen um Einflüsse und Veränderungen der Standardsprache in ihrer Alltagsvarietät, so kann seit einiger Zeit auch bei der Verwendung und bei der Bedeutung von Deutsch als Wissenschaftssprache eine veränderte Situation konstatiert werden. So ergab eine 1990 bei Wissenschaftlern der Freiburger Universität durchgeführte Umfrage: „Ungefähr zwei Drittel aller Befragten glauben, daß ihre wissenschaftliche Karriere vom Gebrauch des Englischen abhängig sei.“ (Schiewe 1996:18). Friedhelm Debus kommt in seinem Aufsatz „Entwicklungen der deutschen Sprache in der Gegenwart – und in der Zukunft?“ zu der Vermutung, daß in jüngster Vergangenheit ein Wechsel vom Deutschen zum Englischen als Wissenschaftssprache begonnen hat und er befürchtet, „daß das Deutsche hierbei durch mangelnde Übung und Nicht-Worten des wissenschaftlichen Fortschritts funktional wieder auf einen rudimentären Stand zurücksinkt und als Wissenschaftssprache unbrauchbar wird.“ (Debus 1999:19)
Die Überlegungen von Friedhelm Debus haben ein Symposion zum Thema Deutsch als Wissenschaftssprache angeregt, das die Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz im Januar 2000 veranstaltete. Vertreter aller wissenschaftlichen Disziplinen diskutierten hier zwei Tage über die Entwicklung des Deutschen zur Wissenschaftssprache und die gegenwärtige Situation.
Noch vor 100 Jahren war Deutsch die Wissenschaftssprache der Welt, dies allerdings erst, nachdem im 18. Jahrhundert der Übergang vom Latein stattgefunden hatte, das bis dahin die Sprache der Wissenschaft gewesen war, also die Sprache der universitären, inderdisziplinären und internationalen Kommunikation für die Lehre, die Publikationen und den wissenschaftlichen Austausch.
„In den 30er Jahren [unseres Jahrhunderts] mußten US-amerikanische Chemiker generell Lesefähigkeiten in deutscher Sprache nachweisen, weil die deutschsprachigen Fachveröffentlichungen nicht ignoriert werden konnten; sogar deutschsprachige Lehrbücher der Chemie waren an US-amerikanischen Universitäten im Gebrauch [...]. Die skandinavischen Länder, die Niederlande und die meisten osteuropäischen Länder verwendeten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis ungefähr zum II. Weltkrieg neben ihren Muttersprachen in beträchtlichem Umfang Deutsch als Wissenschaftssprache, insbesondere auch für eigene wissenschaftliche Publikationen, die international rezipiert werden sollten. In Portugal war vor dem II. Weltkrieg für Juristen Deutsch obligatorisches Begleitstudium [...], ebenso in Japan [...], wo Deutschkenntnisse aber auch für andere Wissenschaftler praktisch unabdingbar waren, z.B. für Mediziner, die sogar ihre Krankenkarteien in deutscher Sprache führten.“ (Ammon 1991:251f.).
Die wachsende Bedeutung der englischen Sprache und ihre Dominanz gegenüber dem Deutschen wird allgemein für die Zeit ab 1933, also mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, spätestens aber seit dem 2. Weltkrieg angenommen. Es finden sich aber Anzeichen dafür, daß der Rückgang des Deutschen im internationalen Wissenschaftsgeschehen schon früher begann. So sieht Ulrich Ammon (Duisburg) einen wichtigen Grund für den Rückgang bereits im Verhalten deutscher Wissenschaftler zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Viele von ihnen waren aktive Kriegsteilnehmer und 93 unterschrieben im Oktober 1914 den Aufruf „An die Kulturwelt!“, der den Krieg rechtfertigte. Dies prägte maßgeblich das Bild der deutschen Wissenschaftler im Ausland. Zusätzlich verweigerten deutsche und österreichische Wissenschaftsorganisationen die internationale Zusammenarbeit. Als Folge davon wurden im Ausland neue Zeitschriften und Referatenorgane gegründet und auf internationalen Konferenzen wurde nur noch Englisch und Französisch gesprochen. Ohnehin fanden viele Konferenzen ohne die Beteiligung deutscher Wissenschaftler statt. Die Zahl der deutschsprachigen Fachpublikationen ging entsprechend zurück. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 verschlechterte sich die Situation der deutschen Wissenschaft in bisher nicht gekanntem Ausmaß. So wurden bis 1936 1677 deutsche Wissenschaftler jüdischer Herkunft vertrieben. Von ihnen ging die Mehrzahl in englischsprachige Länder: in die USA (1160), nach Großbritannien (318) und nach Australien (17). Mit dem Ortswechsel war der Gebrauch des Englischen bei der Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Arbeit verbunden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft haben leider die Bundesrepublik Deutschland und ihre wissenschaftlichen Repräsentanten versäumt, die emigrierten deutschen Wissenschaftler zu bitten, nach Deutschland zurückzukehren.
Der Sprachwechsel in der Wissenschaft vom Deutschen hin zum Englischen wird häufig mit dem vom Latein zum Deutschen verglichen. Schaut man sich aber die gegenwärtige Situation genauer an, so kann man feststellen, daß heute nur bei den wissenschaftlichen Publikationen die englische Sprache dominiert. Sowohl im fachlichen Austausch deutscher Wissenschaftler untereinander als auch in der Lehre herrscht weiterhin die Verwendung der Muttersprache, des Deutschen, vor. Was sich verändert hat, das ist die Sprache der Veröffentlichungen. So wird es in den verschiedenen Disziplinen immer wichtiger auf Englisch zu publizieren, um die internationale Verbreitung und Diskussion der eigenen Forschungsergebnisse zu ermöglichen und zu sichern. Betrachtet man deutsche Fachpublikationen, dann zeigt sich ein steigender Anteil deutscher Autoren sowohl in der Zahl deutschsprachiger als auch englischsprachiger Aufsätze. Das heißt: Deutsch verliert seinen Status als Wissenschaftssprache, zumindest im genannten Bereich. Einige wenige Fächer wie die theoretischen und angewandten Naturwissenschaften und einige geisteswissenschaftliche Disziplinen (klassische Archäologie und Philologie, Theologie (vor allem evangelische), Musikwissenschaft und Philosophie) sperren sich gegenüber dieser englischsprachigen „Internationalisierung“. Aber auch hier verändert sich die Situation allmählich und man fragt, ob es sich bei der Aussage über die beharrlich deutsch kommunizierenden Nischenfächer um Tatsachen oder nur noch um einen liebgewonnenen und tröstenden Mythos handelt.
Wenn man sich die Situation in den 20er und 30er Jahren ansieht (ich verweise auf das angegebene Zitat), so kann man feststellen, daß damals die Physik, und zwar die internationale Physik, von deutschen Wissenschaftlern dominiert wurde. Diese Wissenschaftler publizierten und hielten ihre Vorträge auch an ausländischen Universitäten auf deutsch, als prominentes Beispiel genannt seien hier Max Planck und Albert Einstein. Bis 1928 waren 38% aller Schriften über die Relativitätstheorie in deutscher Sprache abgefaßt. Zu einem Zeitpunkt also, als die führenden Physiker der Welt aus Deutschland kamen, war Deutsch die internationale Sprache der Physik. Wie aber sieht es heute aus? Ein deutscher Physiker hat kürzlich den Nobelpreis erhalten, publiziert er deutsch?
Ein ähnliches Bild präsentiert sich in der Medizin. Die wissenschaftliche Medizin spricht heute Englisch. Vor dem Ersten Weltkrieg und bis zur Mitte der 20er Jahre war Europa die maßgebliche Region in der wissenschaftlichen Medizin. Die Publikationssprache war die jeweilige Muttersprache (also deutsch, französisch, italienisch, spanisch und englisch). 1924 bekam der erste Nicht-Europäer den Medizin-Nobelpreis. Der wissenschaftliche Schwerpunkt verlagerte sich immer stärker in die USA, da viele jüdische Wissenschaftler emigriert und viele junge Wissenschaftler im Krieg gefallen waren. Damit verschoben sich die sprachlichen Relationen: Englisch wurde zur meistgesprochenen Sprache. So ist es heute notwendig geworden, bei Fachpublikationen die englische Sprache zu verwenden.
Es zeigt also folgendes: Wenn von deutschen Wissenschaftlern wichtige Impulse für die Wissenschaft ausgehen, dann wird auch das Interesse an der Lektüre deutscher Texte und damit an Deutsch als Wissenschaftssprache erwachsen bzw. bestehen bleiben.
Das zeigt auch mein nächstes Beispiel aus den Ingenieurwissenschaften: Die Konstruktionslehre ist in Deutschland entwickelt worden. Die Fachzeitschrift „Konstruktion“ erscheint in deutscher Sprache. Sie hat bisher einen einzigen englischen Artikel publiziert.
Deutschsprachige Forschungsbeiträge werden also noch immer über die Sprachgrenze hinweg gelesen, wenn sie qualitativ hochwertig sind und neue Entwicklungen bringen. Insgesamt aber ist auch bei den Ingenieurwissenschaften die Tendenz zu beobachten, daß Englisch an Bedeutung gewinnt. Das gilt stärker für die Theorie als für die Praxis. Dies entspricht der während des Symposions mehrfach geäußerten These, je formaler und mathematischer eine Wissenschaft sei, desto unproblematischer sei die Verwendung einer Fremdsprache und je deskriptiver und exakter eine Wissenschaft, desto wichtiger sei entsprechend die Verwendung der Muttersprache.
Es ergeben sich Fragen, die im Kontext von Deutsch als Wissenschaftssprache wichtig sind:
1. Wie sieht die Realität aus, ist Deutsch als Wissenschaftssprache wirklich von schwindender Bedeutung, und wenn, in welchen Disziplinen?
2. Warum wird es als negativ bewertet, wenn Deutsch seine Bedeutung im internationalen Austausch verliert?
3. Was kann getan werden, um der vorherrschenden Tendenz entgegenzuwirken?
(1)Wie sich während des Symposions gezeigt hat, ist Deutsch nicht vollkommen aus den Wissenschaften verschwunden. Das Vordringen der englischen Sprache ist zwar in den meisten Wissenschaftsdisziplinen festzustellen, von wenigen Fächern abgesehen, in denen Deutsch die relevante Sprache geblieben ist und vermutlich auch bleiben wird. Dort aber, wo sich die Veränderung vollzieht, ist nur ein Teil im gesamten wissenschaftlichen Diskurs betroffen, nämlich die wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Die intra-universitäre Kommunikation, also Lehre, Forschung, der Austausch mit Kollegen innerhalb des Landes und der Wissenschaftsjournalismus im Lande, geschieht auf deutsch. Dies wird voraussichtlich auch weiterhin so bleiben.
(2)Eine Aussage von Harald Weinrich wurde mehrfach zitiert und kontrovers diskutiert. Weinrich spricht sich für den Erhalt des Deutschen als Wissenschaftssprache aus, weil sonst auch die Wissenschaft ärmer werde. Der Gebrauch einer Sprache läßt sich nicht von einer bestimmten Forschungstradition trennen. Verbunden mit der Muttersprache ist aber auch die Möglichkeit des differenzierten, nuancierten Ausdrucks , die in der Fremdsprache nicht gegeben ist. Alles das würde verlorengehen, wenn sich die englische Sprache als Wissenschaftssprache auf allen Kommunikationsfeldern durchsetzte. Eingeschränkt werden muß, es wäre für deutsche Wissenschaftler ein Verlust, eine wachsende Verwendung der englischen Sprache wäre aber auch ein Verlust für Wissenschaftler aus anderen nicht-englischsprachi-gen Ländern. Damit bekommt die Diskussion eine neue Dimension, die in ihrer Konsequenz für die weitere Verwendung der Muttersprache im Wissenschaftsbetrieb des eigenen Landes plädieren läßt. Dies betrifft alle Sprachen, die sich für die wissenschaftliche Auseinandersetzung eignen. Ein weiterer Aspekt ist gleichfalls von großer Bedeutung: Wenn man für die Verwendung und den Erhalt der Muttersprache in der Wissenschaft plädiert, so besteht bei Verwendung der Muttersprache die Möglichkeit des Austauschs zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. So hat die Wissenschaft leichter die Möglichkeit, ihre „Bringschuld“ (Konrad Adam, FAZ) gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen.
(3) Man sollte versuchen, von der Formel „Englisch = weltoffen, modern; Muttersprache = provinziell, bodenständig“ wegzukommen, um den Weg für die Verwendung der Muttersprache in der Wissenschaft freizumachen bzw. zu erhalten, so oft und so gut es geht.
Es wurde immer wieder erörtert, ob das Englische sich besonders gut als internationale Wissenschaftssprache eigne. Die Antwort blieb offen. Doch in der eigenen Muttersprache kann der Autor sehr viel differenzierter der Wissenschaft dienen als in einer gelernten Fremdsprache.
Es wurde verschiedentlich angeregt, Kommissionen zu bilden, um englische Termini zu übersetzen und einen behutsamen Sprachzwang auszuüben. Ein Vorschlag auf der abschließenden Podiumsdiskussion lautete, einen Preis für die beste Transferleistung von Wissenschaftlern gegenüber der Öffentlichkeit auszuschreiben. Diese gute Idee bringt das Problem auf den Punkt: Nicht nationalchauvinistische Gründe sind es, die die Sorge nach dem Rückgang des Deutschen als Wissenschaftssprache erwachsen lassen, es ist die Befürchtung, daß die ohnehin existierende Kluft zwischen Gesellschaft und Wissenschaft durch die exhaustive Verwendung einer Fremdsprache noch tiefer gerät. Allerdings scheint es (noch?) nicht nötig, Alarm zu schlagen, da sich der Gebrauch des Englischen momentan auf den internationalen wissenschaftlichen Austausch beschränkt (Publikationen, Kongresse). Diese Entwicklung ist nicht sprachimmanent zu erklären.
Literatur:
- Ammon, Ulrich: Die internationale Stellung der deutschen Sprache. Berlin, New York 1991.
- Debus, Friedhelm: Entwicklungen der deutschen Sprache in der Gegenwart – und in der Zukunft? Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Stuttgart 1999.
- Gesellschaft für deutsche Sprache: Deutsch und Englisch. Stellungnahme der Gesellschaft für deutsche Sprache zum englischen Einfluss auf die deutsche Sprache. In: Der Sprachdienst 6 (1999), S. 217-220.
- Kretzenbacher, Heinz L.; Weinrich, Harald (Hrsg.): Linguistik der Wissenschaftssprache. Berlin, New York 1995.
- Schiewe, Jürgen: Sprachenwechsel – Funktionswandel – Austausch der Denkstile. Die Universität Freiburg zwischen Latein und Deutsch. Tübingen 1996
Handelt es sich bei diesen Themen um Einflüsse und Veränderungen der Standardsprache in ihrer Alltagsvarietät, so kann seit einiger Zeit auch bei der Verwendung und bei der Bedeutung von Deutsch als Wissenschaftssprache eine veränderte Situation konstatiert werden. So ergab eine 1990 bei Wissenschaftlern der Freiburger Universität durchgeführte Umfrage: „Ungefähr zwei Drittel aller Befragten glauben, daß ihre wissenschaftliche Karriere vom Gebrauch des Englischen abhängig sei.“ (Schiewe 1996:18). Friedhelm Debus kommt in seinem Aufsatz „Entwicklungen der deutschen Sprache in der Gegenwart – und in der Zukunft?“ zu der Vermutung, daß in jüngster Vergangenheit ein Wechsel vom Deutschen zum Englischen als Wissenschaftssprache begonnen hat und er befürchtet, „daß das Deutsche hierbei durch mangelnde Übung und Nicht-Worten des wissenschaftlichen Fortschritts funktional wieder auf einen rudimentären Stand zurücksinkt und als Wissenschaftssprache unbrauchbar wird.“ (Debus 1999:19)
Die Überlegungen von Friedhelm Debus haben ein Symposion zum Thema Deutsch als Wissenschaftssprache angeregt, das die Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz im Januar 2000 veranstaltete. Vertreter aller wissenschaftlichen Disziplinen diskutierten hier zwei Tage über die Entwicklung des Deutschen zur Wissenschaftssprache und die gegenwärtige Situation.
Noch vor 100 Jahren war Deutsch die Wissenschaftssprache der Welt, dies allerdings erst, nachdem im 18. Jahrhundert der Übergang vom Latein stattgefunden hatte, das bis dahin die Sprache der Wissenschaft gewesen war, also die Sprache der universitären, inderdisziplinären und internationalen Kommunikation für die Lehre, die Publikationen und den wissenschaftlichen Austausch.
„In den 30er Jahren [unseres Jahrhunderts] mußten US-amerikanische Chemiker generell Lesefähigkeiten in deutscher Sprache nachweisen, weil die deutschsprachigen Fachveröffentlichungen nicht ignoriert werden konnten; sogar deutschsprachige Lehrbücher der Chemie waren an US-amerikanischen Universitäten im Gebrauch [...]. Die skandinavischen Länder, die Niederlande und die meisten osteuropäischen Länder verwendeten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis ungefähr zum II. Weltkrieg neben ihren Muttersprachen in beträchtlichem Umfang Deutsch als Wissenschaftssprache, insbesondere auch für eigene wissenschaftliche Publikationen, die international rezipiert werden sollten. In Portugal war vor dem II. Weltkrieg für Juristen Deutsch obligatorisches Begleitstudium [...], ebenso in Japan [...], wo Deutschkenntnisse aber auch für andere Wissenschaftler praktisch unabdingbar waren, z.B. für Mediziner, die sogar ihre Krankenkarteien in deutscher Sprache führten.“ (Ammon 1991:251f.).
Die wachsende Bedeutung der englischen Sprache und ihre Dominanz gegenüber dem Deutschen wird allgemein für die Zeit ab 1933, also mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, spätestens aber seit dem 2. Weltkrieg angenommen. Es finden sich aber Anzeichen dafür, daß der Rückgang des Deutschen im internationalen Wissenschaftsgeschehen schon früher begann. So sieht Ulrich Ammon (Duisburg) einen wichtigen Grund für den Rückgang bereits im Verhalten deutscher Wissenschaftler zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Viele von ihnen waren aktive Kriegsteilnehmer und 93 unterschrieben im Oktober 1914 den Aufruf „An die Kulturwelt!“, der den Krieg rechtfertigte. Dies prägte maßgeblich das Bild der deutschen Wissenschaftler im Ausland. Zusätzlich verweigerten deutsche und österreichische Wissenschaftsorganisationen die internationale Zusammenarbeit. Als Folge davon wurden im Ausland neue Zeitschriften und Referatenorgane gegründet und auf internationalen Konferenzen wurde nur noch Englisch und Französisch gesprochen. Ohnehin fanden viele Konferenzen ohne die Beteiligung deutscher Wissenschaftler statt. Die Zahl der deutschsprachigen Fachpublikationen ging entsprechend zurück. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 verschlechterte sich die Situation der deutschen Wissenschaft in bisher nicht gekanntem Ausmaß. So wurden bis 1936 1677 deutsche Wissenschaftler jüdischer Herkunft vertrieben. Von ihnen ging die Mehrzahl in englischsprachige Länder: in die USA (1160), nach Großbritannien (318) und nach Australien (17). Mit dem Ortswechsel war der Gebrauch des Englischen bei der Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Arbeit verbunden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft haben leider die Bundesrepublik Deutschland und ihre wissenschaftlichen Repräsentanten versäumt, die emigrierten deutschen Wissenschaftler zu bitten, nach Deutschland zurückzukehren.
Der Sprachwechsel in der Wissenschaft vom Deutschen hin zum Englischen wird häufig mit dem vom Latein zum Deutschen verglichen. Schaut man sich aber die gegenwärtige Situation genauer an, so kann man feststellen, daß heute nur bei den wissenschaftlichen Publikationen die englische Sprache dominiert. Sowohl im fachlichen Austausch deutscher Wissenschaftler untereinander als auch in der Lehre herrscht weiterhin die Verwendung der Muttersprache, des Deutschen, vor. Was sich verändert hat, das ist die Sprache der Veröffentlichungen. So wird es in den verschiedenen Disziplinen immer wichtiger auf Englisch zu publizieren, um die internationale Verbreitung und Diskussion der eigenen Forschungsergebnisse zu ermöglichen und zu sichern. Betrachtet man deutsche Fachpublikationen, dann zeigt sich ein steigender Anteil deutscher Autoren sowohl in der Zahl deutschsprachiger als auch englischsprachiger Aufsätze. Das heißt: Deutsch verliert seinen Status als Wissenschaftssprache, zumindest im genannten Bereich. Einige wenige Fächer wie die theoretischen und angewandten Naturwissenschaften und einige geisteswissenschaftliche Disziplinen (klassische Archäologie und Philologie, Theologie (vor allem evangelische), Musikwissenschaft und Philosophie) sperren sich gegenüber dieser englischsprachigen „Internationalisierung“. Aber auch hier verändert sich die Situation allmählich und man fragt, ob es sich bei der Aussage über die beharrlich deutsch kommunizierenden Nischenfächer um Tatsachen oder nur noch um einen liebgewonnenen und tröstenden Mythos handelt.
Wenn man sich die Situation in den 20er und 30er Jahren ansieht (ich verweise auf das angegebene Zitat), so kann man feststellen, daß damals die Physik, und zwar die internationale Physik, von deutschen Wissenschaftlern dominiert wurde. Diese Wissenschaftler publizierten und hielten ihre Vorträge auch an ausländischen Universitäten auf deutsch, als prominentes Beispiel genannt seien hier Max Planck und Albert Einstein. Bis 1928 waren 38% aller Schriften über die Relativitätstheorie in deutscher Sprache abgefaßt. Zu einem Zeitpunkt also, als die führenden Physiker der Welt aus Deutschland kamen, war Deutsch die internationale Sprache der Physik. Wie aber sieht es heute aus? Ein deutscher Physiker hat kürzlich den Nobelpreis erhalten, publiziert er deutsch?
Ein ähnliches Bild präsentiert sich in der Medizin. Die wissenschaftliche Medizin spricht heute Englisch. Vor dem Ersten Weltkrieg und bis zur Mitte der 20er Jahre war Europa die maßgebliche Region in der wissenschaftlichen Medizin. Die Publikationssprache war die jeweilige Muttersprache (also deutsch, französisch, italienisch, spanisch und englisch). 1924 bekam der erste Nicht-Europäer den Medizin-Nobelpreis. Der wissenschaftliche Schwerpunkt verlagerte sich immer stärker in die USA, da viele jüdische Wissenschaftler emigriert und viele junge Wissenschaftler im Krieg gefallen waren. Damit verschoben sich die sprachlichen Relationen: Englisch wurde zur meistgesprochenen Sprache. So ist es heute notwendig geworden, bei Fachpublikationen die englische Sprache zu verwenden.
Es zeigt also folgendes: Wenn von deutschen Wissenschaftlern wichtige Impulse für die Wissenschaft ausgehen, dann wird auch das Interesse an der Lektüre deutscher Texte und damit an Deutsch als Wissenschaftssprache erwachsen bzw. bestehen bleiben.
Das zeigt auch mein nächstes Beispiel aus den Ingenieurwissenschaften: Die Konstruktionslehre ist in Deutschland entwickelt worden. Die Fachzeitschrift „Konstruktion“ erscheint in deutscher Sprache. Sie hat bisher einen einzigen englischen Artikel publiziert.
Deutschsprachige Forschungsbeiträge werden also noch immer über die Sprachgrenze hinweg gelesen, wenn sie qualitativ hochwertig sind und neue Entwicklungen bringen. Insgesamt aber ist auch bei den Ingenieurwissenschaften die Tendenz zu beobachten, daß Englisch an Bedeutung gewinnt. Das gilt stärker für die Theorie als für die Praxis. Dies entspricht der während des Symposions mehrfach geäußerten These, je formaler und mathematischer eine Wissenschaft sei, desto unproblematischer sei die Verwendung einer Fremdsprache und je deskriptiver und exakter eine Wissenschaft, desto wichtiger sei entsprechend die Verwendung der Muttersprache.
Es ergeben sich Fragen, die im Kontext von Deutsch als Wissenschaftssprache wichtig sind:
1. Wie sieht die Realität aus, ist Deutsch als Wissenschaftssprache wirklich von schwindender Bedeutung, und wenn, in welchen Disziplinen?
2. Warum wird es als negativ bewertet, wenn Deutsch seine Bedeutung im internationalen Austausch verliert?
3. Was kann getan werden, um der vorherrschenden Tendenz entgegenzuwirken?
(1)Wie sich während des Symposions gezeigt hat, ist Deutsch nicht vollkommen aus den Wissenschaften verschwunden. Das Vordringen der englischen Sprache ist zwar in den meisten Wissenschaftsdisziplinen festzustellen, von wenigen Fächern abgesehen, in denen Deutsch die relevante Sprache geblieben ist und vermutlich auch bleiben wird. Dort aber, wo sich die Veränderung vollzieht, ist nur ein Teil im gesamten wissenschaftlichen Diskurs betroffen, nämlich die wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Die intra-universitäre Kommunikation, also Lehre, Forschung, der Austausch mit Kollegen innerhalb des Landes und der Wissenschaftsjournalismus im Lande, geschieht auf deutsch. Dies wird voraussichtlich auch weiterhin so bleiben.
(2)Eine Aussage von Harald Weinrich wurde mehrfach zitiert und kontrovers diskutiert. Weinrich spricht sich für den Erhalt des Deutschen als Wissenschaftssprache aus, weil sonst auch die Wissenschaft ärmer werde. Der Gebrauch einer Sprache läßt sich nicht von einer bestimmten Forschungstradition trennen. Verbunden mit der Muttersprache ist aber auch die Möglichkeit des differenzierten, nuancierten Ausdrucks , die in der Fremdsprache nicht gegeben ist. Alles das würde verlorengehen, wenn sich die englische Sprache als Wissenschaftssprache auf allen Kommunikationsfeldern durchsetzte. Eingeschränkt werden muß, es wäre für deutsche Wissenschaftler ein Verlust, eine wachsende Verwendung der englischen Sprache wäre aber auch ein Verlust für Wissenschaftler aus anderen nicht-englischsprachi-gen Ländern. Damit bekommt die Diskussion eine neue Dimension, die in ihrer Konsequenz für die weitere Verwendung der Muttersprache im Wissenschaftsbetrieb des eigenen Landes plädieren läßt. Dies betrifft alle Sprachen, die sich für die wissenschaftliche Auseinandersetzung eignen. Ein weiterer Aspekt ist gleichfalls von großer Bedeutung: Wenn man für die Verwendung und den Erhalt der Muttersprache in der Wissenschaft plädiert, so besteht bei Verwendung der Muttersprache die Möglichkeit des Austauschs zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. So hat die Wissenschaft leichter die Möglichkeit, ihre „Bringschuld“ (Konrad Adam, FAZ) gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen.
(3) Man sollte versuchen, von der Formel „Englisch = weltoffen, modern; Muttersprache = provinziell, bodenständig“ wegzukommen, um den Weg für die Verwendung der Muttersprache in der Wissenschaft freizumachen bzw. zu erhalten, so oft und so gut es geht.
Es wurde immer wieder erörtert, ob das Englische sich besonders gut als internationale Wissenschaftssprache eigne. Die Antwort blieb offen. Doch in der eigenen Muttersprache kann der Autor sehr viel differenzierter der Wissenschaft dienen als in einer gelernten Fremdsprache.
Es wurde verschiedentlich angeregt, Kommissionen zu bilden, um englische Termini zu übersetzen und einen behutsamen Sprachzwang auszuüben. Ein Vorschlag auf der abschließenden Podiumsdiskussion lautete, einen Preis für die beste Transferleistung von Wissenschaftlern gegenüber der Öffentlichkeit auszuschreiben. Diese gute Idee bringt das Problem auf den Punkt: Nicht nationalchauvinistische Gründe sind es, die die Sorge nach dem Rückgang des Deutschen als Wissenschaftssprache erwachsen lassen, es ist die Befürchtung, daß die ohnehin existierende Kluft zwischen Gesellschaft und Wissenschaft durch die exhaustive Verwendung einer Fremdsprache noch tiefer gerät. Allerdings scheint es (noch?) nicht nötig, Alarm zu schlagen, da sich der Gebrauch des Englischen momentan auf den internationalen wissenschaftlichen Austausch beschränkt (Publikationen, Kongresse). Diese Entwicklung ist nicht sprachimmanent zu erklären.
Literatur:
- Ammon, Ulrich: Die internationale Stellung der deutschen Sprache. Berlin, New York 1991.
- Debus, Friedhelm: Entwicklungen der deutschen Sprache in der Gegenwart – und in der Zukunft? Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Stuttgart 1999.
- Gesellschaft für deutsche Sprache: Deutsch und Englisch. Stellungnahme der Gesellschaft für deutsche Sprache zum englischen Einfluss auf die deutsche Sprache. In: Der Sprachdienst 6 (1999), S. 217-220.
- Kretzenbacher, Heinz L.; Weinrich, Harald (Hrsg.): Linguistik der Wissenschaftssprache. Berlin, New York 1995.
- Schiewe, Jürgen: Sprachenwechsel – Funktionswandel – Austausch der Denkstile. Die Universität Freiburg zwischen Latein und Deutsch. Tübingen 1996
Ambulito - 3. Jun, 17:04