Von der Idee, Fußballprofi zu werden

Es war neulich, da ist etwas Seltsames passiert. Ich saß vor dem Fernseher, trank ein Glas Rotwein und schaute einem Fußballspiel zu. Auf einmal durchfuhr mich ein seltsamer Gedanke: Ich wollte Fußballprofi werden. Wer mich kennt, der wird sich wohl wundern und meinen, jetzt hätte ich vollkommen den Verstand verloren. Außerdem sei es mit 35 Jahren ja vielleicht auch schon ein bisschen spät für solche Pläne. Klar, zunächst einmal klingt das wirklich ziemlich weltfremd und komisch. Andererseits wissen die alle ja nicht das, was ich weiß. Während ich dem bunten Treiben auf dem Rasen zusah und mir alle möglichen und unmöglichen Einwände in den Sinn, wurde ich immer überzeugter, dass ich wahrscheinlich ein großartiger Fußballprofi wäre und längst auf dem Zenit meiner Fußballprofi-Karriere stehen würde. Wenn nicht, ja wenn nicht ein entschiedenes Hindernis diese traumhafte Laufbahn bereits im Ansatz zunichte gemacht hätte. Seit meinem achten Lebensjahr habe ich nämlich eine Brille, und war dieses untrügliche Zeichen meiner Behinderung anfangs noch ein Grund dafür, sich zu schämen, so habe ich mich doch im Laufe der Jahre, fast schon Jahrzehnte daran gewöhnt. Eigentlich ist es mehr als das, die Brille ist ein Teil von mir geworden. Und genau so, wie man nicht mutwillig die Hand auf die Herdplatte oder den Fuß unter die Straßenbahn legt, genau so habe ich mich immer dagegen gewehrt, diese meine Brille in die Flugbahn eines kraftvoll beschleunigten Lederballs zu halten. Und das, seit ich die Brille ohne Unterbrechung und von morgens bis abends trage. Abgerechnet das halbe Schamjahr also ungefähr seit meinem neunten Lebensjahr. Mit anderen Worten: Bei allen Gelegenheiten, da ich an Fußball-Veranstaltungen teilnahm, und für einen Jungen in einer Schulklasse mit neun anderen Jungs gibt es da einige, war ich ein hoffnungsloser Fall und ständig Zielscheibe von bösen und gemeinen Bemerkungen. Apropos Zielscheibe: Da ich auch nicht gerade schnell laufen konnte oder wollte und überdies der Längste in der Klasse war, stand ich natürlich im Tor. Und jedes Mal gab es da während diverser Fußballturniere Augenblicke, wo ich mit Stolz an die große Verantwortung dachte, die ich von meinen Mitschülern übertragen bekommen hatte. Dann stand ich da mit geschwellter Brust und erhobenen Hauptes und genoss dieses Gefühl, der wichtigste Mann auf dem Platz, oder doch einer von zweien, zu sein. Leider endete dieses Gefühl jedes Mal abrupt und grausam in dem Augenblick, in dem sich ein gegnerischer Spieler mit dem Ball vor unser Tor verirrte und meistens – ich formuliere es mal so – den Ball auch an mir vorbei hineinbugsierte. Ich weiß nicht, ob es stimmt, was meine Kameraden mir dann hinterher vorwarfen, ich weiß wirklich nicht, ob ich dem Ball jedes Mal ausgewichen bin. Woran ich mich aber erinnern kann, war der Augenblick, wenn ich den Ball nach dem gegnerischen Tor wieder ins Spielfeld bringen durfte. Hier liegt auch der entschiedene Vorteil des Torwartes. Er nämlich ist der einzige, der während des Spiels in Ruhe den Ball schießen kann, und zwar nachdem er ihn aus dem eigenen Netz gefischt hat.
Ich widmete mich dann anderen Dingen. Beim Küssen, so hatte ich mich bemerkt, ist eine Brille nämlich keineswegs hinderlich, sondern eröffnet einem an einem gewissen Punkt Möglichkeiten, die den ballschießenden Mitjungs eindeutig nicht gegeben waren. Schließlich war die Schulzeit noch die Periode, wo Mädchen der Überzeugung sind, dass brillentragende Jungen die besseren Küsser sind. Hat vielleicht damit zu tun, dass Brillenträger weniger Sport treiben, also mehr lesen, also zartfühlender und empfindsamer sind. Dass sie auch unsportlicher sind, ist ja in dem Alter noch kein so großes Problem.
So habe ich dann die nächsten zweieinhalb Jahrzehnte verbracht, lesend und küssend. Es war bestimmt eine schöne Zeit, die ich auch nicht missen möchte, doch jetzt, so wurde es mir vor dem Fernseher bewusst, jetzt ist die Zeit für Veränderungen, und zwar solche radikaler Art.
Mir war vollkommen klar, dass alles nur an meiner Brille lag. Die Trennung von ihr viel mir nicht allzu schwer, da mein Versuch, als Intellektueller reich und berühmt zu werden, auch nicht wirklich erfolgreich war. Gut, das mit dem Küssen war etwas anderes. Ich bin, wie soll ich sagen, in diesem Bereich schon zu Ruhm und Ehre gekommen, hatte mittlerweile sogar eine wunderschöne und obendrein noch über alle Maßen intelligente Ehefrau. Trotzdem fehlte mir etwas, und zwar so was, wo ich mich noch beweisen könnte, als Mensch und als Mann als solcher. Was läge da näher als der Fußball? Die Sache meiner Frau zu erklären schien mir hoffnungslos, also ließ ich es und ging einfach so zu meinem Optiker um mir endlich Haftschalen für die Augen zu beschaffen. Als ich diese dann abholte fühlte ich mich bereits wie ein neuer Mensch. Auf einmal sah ich die Welt ohne Rahmen, ohne Begrenzung. Allerdings muss ich gestehen, dass damit auch einige andere Dinge wegfielen. Ich hatte ja gelernt, dass alles, was sich innerhalb eines Rahmens befindet, auch irgendwie zueinander in Beziehung steht und somit im Zusammenspiel auch einen gewissen Sinn darstellt. Das fiel jetzt auf einmal weg! Mit anderen Worten: Alles was ich sah machte auf einmal keinen Sinn, überhaupt keinen Sinn mehr. Wohin ich auch schaute, die Welt war für mich sinnlos und vollkommen unverständlich geworden. Es dauerte nicht allzu lange bis zu dieser Erkenntnis und sie traf mich völlig unvorbereitet. Ich setzte mich auf die nächste Bank und schloss die Augen. Das mein neues Leben ein komplett anderes werden würde, das war mir vorher bereits klar gewesen. Aber das sich auf einmal auch mein Alltag und überhaupt alles verändern würde, darauf war ich nicht gefasst. Ich dachte an meinen Masterplan, die Idee, ein Fußballprofi zu werden und ich fragte mich, ob ich jetzt überhaupt noch in der Lage sein würde, konsequent und ohne Zögern mein Leben umkrempeln und das feindliche Tor erstürmen zu können. Blinzelnd und augenreibend ging ich nach Hause und setzte mich schwer aufs Sofa in unserem Wohnzimmer. Plötzlich stand meine süße Frau in der Tür und fragte, was denn mit mir los sei. Ich sah sie an, etwas zaghaft und vorsichtig und da stand sie. Ich erhob mich vom Sofa, ging auf sie zu, nahm sie in meine Arme und küsste sie lang und innig und auf einmal, da in unserem Türrahmen, genau zwischen Wohn- und Schlafzimmer, machte alles auf einmal und endgültig wieder Sinn.

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