Von der (fröhlichen) heiligen Wissenschaft (2002)

Eines Tages setzte der Vater sich zu seinem Kinde und begann zu erzählen: „Liebes Kind, lass mich Dir heute einmal von etwas ganz besonders Wichtigem für uns alle erzählen: Ich möchte Dir von der Wissenschaft berichten. Da beschäftigen sich grundanständige und intelligente Menschen mit allem, was uns so umgibt, mit der Natur, mit der Konstruktion von Brücken und Kanalisationen, mit der Entwicklung von Textilien und speziellen Lebensmitteln, mit fremden Sprachen, mit Literatur, der Geschichte und unseren Körpern und den dazugehörenden Krankheiten. Die Leute, die sich da den ganzen Tag mit Büchern und Forschungen auseinandersetzen sind neutral, unparteiisch, eben wissenschaftlich. So heißen sie auch: Wissenschaftler. Diese Menschen findet man vor allem in der sogenannten Hochschule oder – ein anderer Name – Universität. Da treffen sie sich, dort arbeiten sie und dort machen sie noch etwas ganz Wichtiges: Sie kümmern sich um die schlausten jungen Menschen unseres Landes, erzählen ihnen alles, was sie wissen und selbst gelernt haben. So können diese jungen Menschen später wichtige Aufgaben in unserem Land übernehmen, oder selber Wissenschaftler werden und wiederum den Nachwuchs ausbilden. Weil diese jungen Menschen für unsere Zukunft ganz besonders wichtig sind, werden sie mit Hochachtung und Respekt behandelt. Sie müssen schließlich viel lernen, um unser Land zu führen und später in ihren wichtigen Positionen Bedeutendes leisten.“
Am nächsten Tag unternahm der Sohn einen Spaziergang mit seiner Tante (die an der Universität arbeitete) und kehrte verwirrt zu seinem Vater zurück. „Vater, hast Du mich gestern angelogen? Alles, was ich bei der Tante gesehen habe, war ganz anders als Du gesagt hast! Die Universität war sehr schön anzusehen, ein altes und vornehmes Gebäude, aber dann hat mir die Tante erklärt, dort sei nicht die Universität, sondern dort säße der Chef und die vielen vielen Männer und Frauen, die mit dem Geld der Universität beschäftigt seien. Die Tante erklärte mir auch, dass sie in das alte Gebäude selbst nicht so einfach hineinkönne, sondern eine spezielle Karte brauche oder einen Termin. Die Universität war dann auf der anderen Seite und auch ganz schön. Aber wieder musste ich mich doch wundern, denn wir durften nicht durch den schönen Eingang gehen. Der war nämlich abgeschlossen und nur wichtige, also ganz wichtige Leute (meistens Männer) dürften da hindurchgehen, erklärte mir die Tante. Wir, und auch die vielen Studenten mussten eine kleine schäbige Hintertür benutzen. Das war eng dort! Die Räume, in denen die Studenten saßen, waren ganz kalt und die Möbel waren alt und wackelig. Ganz anders als in dem schönen Haus, wo ich dann doch noch mit der Tante hingehen musste. Dort war es schön warm und gemütlich, die Leute hatten tolle Möbel. Und was das Komischste war: Genau so streng und unfreundlich wie die Tante vorher mit den Studenten sprach, so sprachen die Leute dort mit der Tante. Richtig unfreundlich waren die. Als wir zurückgingen, erzählte mir die Tante noch etwas, was so ganz anders war, als was Du mir gestern beschrieben hast. Sie sagte nämlich, dass die meisten Studenten hinterher weggehen würden aus unserem Land und woanders ihr Glück versuchten. Die Studenten aber, die hier bleiben, wollen am liebsten für den Chef irgendeiner ausländischen Firma Kaffee kochen, weil sie da mehr verdienen würden. Anständig sind die wichtigen Leute dort aber. Da hast Du mich nicht belogen, Vater! Als ich mit der Tante nämlich wieder in ihrem Büro war, hatte ich ein bisschen Zeit (die Tante musste arbeiten) und da habe ich ein Buch gefunden mit allen, die dort arbeiten. Und Ich habe nämlich herausgefunden, dass fast alle Namen von den wichtigen Leuten (das sind die, die ihr Büro in dem schönen Haus haben) noch einmal irgendwo auftaucht. Schließlich haben die ja alle eine Frau oder ein Kind, die ebenfalls Geld verdienen müssen. Das verstehe ich gut.
Trotzdem glaube ich, dass ich nicht so gerne Wissenschaftler werden möchte, wie ich Dir gestern Abend noch gesagt habe. Lieber werde ich Sekretärin. Die werden nämlich viel besser behandelt und frieren müssen die auch nicht. Und außerdem verdienen die auch viel mehr Geld, hat mir die Tante gesagt!“
Der Vater nimmt noch einen kräftigen Schluck aus der inzwischen fast geleerten Flasche, beugt sich zu seinem Kind und sagt: „Das hast Du alles ganz falsch verstanden. Wahrscheinlich bist Du doch noch zu klein dafür!“ und schickt es schnell zu Bett, bevor er eine neue Flasche öffnet.

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