Großstadtgeschichte 1 (2003)

Gestern abend hab’ ich wohl mal wieder den Mund etwas zu weit aufgerissen. Aber wer konnte auch ahnen, wo das hinführen würde.
Ich saß auf meinem Balkon, wohlverdient die friedliche Stimmung nach getanem Tagwerk und erledigter Arbeit genießend, dabei der Sonne bei ihrem Lauf Richtung Horizont und Untergang zusehend. Leise sog ich an meiner letzten Zigarette (der mittlerweile fünften in diesem Monat), eines dieser modischen Erfrischungsgetränke in der Hand. Da sah ich, wie meine Nachbarin von gegenüber ihren Balkon präparierte: Kerzen wurden aufgestellt und illuminiert, zwei Weingläser inklusive Rotweinflasche (geöffnet, wg. Blume) auf den mit unifarbener Tischdecke bereits veredelten Klapptisch postiert, Teller und Besteck, Ascher und Blumenvase in bewährter Manier drapiert. Die Nachbarin selbst mit weißer Bluse und schickem Beinkleid dazu angemessen gewandet. Ich schaute mir das Treiben eine Weile an, dann rief ich hinüber: „Spar Dir die Arbeit. Er kommt nicht, ich habe ihn heute nachmittag mit einer anderen gesehen!“ Ich hab’ mir ehrlich gesagt nicht allzu viel dabei gedacht, folgte damit nur einer spontanen Eingebung. Meine Nachbarin blickte auf, wie vom Donner gerührt, mich dabei zum ersten Mal bemerkend und rief rüber: „Sag’ das nochmal!“
Nun muss man vielleicht anmerken, dass unsere Straße nicht eine der meistbefahrenen ist, eher sogar einen recht ruhigen Verkehrsweg darstellt. Schmal ist sie dabei dennoch nicht, und S- wie Autobahn tragen zu einem permanenten Pegel von spürbarer Intensität nicht unwesentlich bei. Jedenfalls reicht ein Flüstern oder Normalsprechen eindeutig nicht aus, wenn man quer über die Straße von Balkon zu Balkon Konversation treibt. Das hatte ich jedenfalls gemerkt, als ich versuchte, mein doch etwas weites Aus-Dem-Fenster-Lehnen wieder rückgängig und am besten gleich vergessen zu machen. Ging aber nicht, also wiederholte ich meine Aussage, worauf sie erst laut fluchte, dann über den Aufwand des Essenkaufens und -zubereitens lamentierte, und schließlich, quasi als Klimax dieser Nervenkrise, darauf bestand, dass ich dann aber wenigstens an Stelle des treulosen Thomas (sozusagen) ihr neuer Tisch- und nicht nur Balkonnachbar werden müsse. Gesagt, getan, vorher rief sie mir kurz noch ihren Namen zu, damit ich die richtige Klingel fände.
Na ja, viel Spaß hatte ich an dem Abend nicht. Auch wenn ich meine Geschichte inzwischen selbst geglaubt hatte, kam der ursprünglich geladene Gast, der wirklich Thomas hieß und im übrigen ihr langjähriger Verlobter und ein wirklich anständiger Kerl war, dann doch noch mit einer kleinen Verspätung (der Berufspendler war im Stau steckengeblieben) an. Mir hat er fast überhaupt nicht weh getan.
Ich bin dann ohne Abendbrot direkt schlafen gegangen. Den Balkon werde ich untervermieten.

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